Von: Heinz Zangerle [mailto:Heinz.zangerle@aon.at]
Gesendet: Freitag, 31. August 2007 09:13
Betreff: bitte Kinder nicht verstaatlichen wie in Deutschland!
Dr. Heinz Zangerle
Psychologe, Psychotherapeut, ger. beeid. Sachverst.
A - 6020 - Innsbruck, Anichstr. 29
Tel.: 0512 - 58 42 18;
heinz.zangerle@aon.at
KINDER WOLLEN KEINE KRIPPEN !
Heinz Zangerle, Innsbruck
In der öffentlichen Diskussion um die Kinderbetreuung ist immer nur von
Notwendigkeiten und "Nachholbedarf" an möglichst flächendeckender
Ganztagsbetreuung, womöglich schon bei Kleinstkindern, die Rede. Nach den
Bedürfnissen der Kinder, ihrem Recht auf liebevolle elterliche
Bezugspersonen fragt niemand. Auch in Fachkreisen wird selten gefragt:
- Sind Kleinkinder überhaupt gruppenfähig?
- Ist Gruppenbetreuung besser als Einzelaufzucht?
- Sind Kinder in den Ganztagskrippen glücklich?
- Für welche Kinder ist die Kindertagesstätte geradezu eine alltägliche
Tortour?
- Bewirken frühe Kollektivierung und Uniformitätsdruck nicht angepasstes
Mitläufertum statt Individualität?
- Und vor allem:
Was ist mit jenen Kindern, die sich nicht täglich schon
frühmorgens aus ihrem familiären Nest verfrachten lassen wollen und
herzzerreißend nach ihren Eltern weinen? Was mit jenen Kindern, die für sich allein sein wollen und erkennbar unter dem Dauerstress der Gruppe leiden?
Der bekannte Pädagoge Albert Wunsch findet auf derartige Fragen eine
radikale Antwort: "Kinder wollen in der Regel weder in Kinderkrippen, zu
Tagesmüttern noch in Ganztagsschulen". Sie möchten einfach in der
Lebenswelt, in die sie hineingeboren wurden, möglichst viele gute
Erfahrungen mit ihren Vätern und Müttern machen. "Kinder brauchen
Elternhäuser und keine Verschiebebahnhöfe zwischen öffentlicher
Ganztagsbetreuung und familiärem Nachtquartier".
Wunsch ist Recht zu geben, auch aus kinderpsychologischer Sicht muss man - entgegen der vorherrschenden neuen Doktrin von der Unbedenklichkeit früher Gruppenbetreuung und dem scheinbar so wichtigen, möglichst frühen sozialen Lernen - festhalten: Ein sehr hoher Anteil von Krippenkindern kann mit Gruppen Gleichaltriger noch nichts anfangen! Sie sind - entwicklungspsychologisch betrachtet - noch nicht zum echten Zusammenspiel, sondern höchstens zum Einzel- bzw. Parallelspiel fähig. Die Hauptbindung der meisten Kinder besteht zu ihren Familien, die Spielgruppe ist mehr von äußerer Struktur als von innerem Halt getragen. Zudem führt die Gruppe für viele Kinder aufgrund von Lärm und dem Überangebot an gegenseitiger Überreizung zu einer psychischen Dauerbelastung, die sie abstumpft und passiv macht. Es ist nicht zu vertreten, dass wir von Kindern - obwohl noch längst nicht gruppenfähig - erwarten, dass sie immer noch früher damit fertig werden, stundenlang in lauten, lärmenden Krabbelstuben, Kindergruppen und Horten ihrer Identität beraubt zu werden. Möglichst früh sollen sie lernen, sich von uns möglichst lang zu trennen, sich einzufügen und sich mit alltäglicher Hast und Hetze abzufinden.
Man kann davon ausgehen, dass ein hoher Anteil der bei Grundschülern beklagten Konzentrationsschwächen, Artikulationsstörungen und wachsender Aggressivität auf Konto der zu frühen Gruppenhaltung von Kindern gehen.
Besonders sog. Problemkinder wie etwa der unter mangelnder Selbststeuerung leidende "Zappelphilipp" und Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen sind in der Gruppensituation von Krabbelstuben und Kinderhorten heillos überfordert.
Flächendeckende Krippenerziehung - kollektivierte Kindheit
Für die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit sind die angedeuteten Umstände nicht förderlich. Es kommt nicht von ungefähr, wenn viele Eltern ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihre Kinder ganztags in die Kinderbetreuung geben (müssen) und angesichts der unruhigen Dynamik der Gruppen schon beim morgendlichen Abgeben des Kindes eilends die Flucht ergreifen...
Dass viele Eltern sich eine Ruhigstellung des Kindes erst durch Zuwendung mittels Konsum erkaufen, ist zum wesentlichen Aspekt der Kompensationsgeschäfte mit dem Kind geworden: Je mehr Fremdunterbringung, desto mehr materielle Zuwendung bzw. Verwöhnung im Anschluss.
Die zahlreichen Erfahrungen von Trennung und Verlust in Kombination mit
nicht vorhandenen bzw. brüchigen Primär- und Familienbeziehungen bergen beim Nachwuchs die Gefahr eines einsamen Individualismus, eines ständig reizoffenen, ruhelosen Suchens nach dem nächsten Erlebniskick. Die Erwartung, dass schon Kleinkinder imstande sind, sich quasi aus sich selbst zu individualisierten Wesen zu entwickeln, ist nicht einlösbar.
Christian Pfeiffer, der Leiter des kriminologischen Institutes in Hannover
spricht in diesem Zusammenhang von
"Krippenkatastrophe". Er hat die Folgen der Ganztagsbetreuung in DDR-Krippen vom Säuglingsalter an unter die Lupe genommen und festgestellt, dass Jugendkriminalität, Gewaltbereitschaft und politischer Extremismus gerade dort am besten gediehen sind, wo die angeblich erstrebenswerte Säuglingsbetreuung schon seit Generationen verwirklicht ist und war. Pfeiffer vertritt die These, der Rechtsradikalismus und die aggressive Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland hätten ihren Ursprung in der Maxime des zu frühen
Eingliederns von Kindern ins Kollektiv schon ab dem Windelalter. Ein
"durchorganisierter Tagesablauf der Lieblosigkeit" habe die Unterwerfung
unter fremde Autoritäten geradezu gefördert.
Hier ist einzuwenden, dass die Unterbringung der Kinder in DDR Krippen
keinesfalls mit hiesigen Standards der außerfamiliären Kinderbetreuung
vergleichbar ist. Aber selbst die beste externe Betreuung kann den Kindern elterliche Zuwendung nicht ersetzen. Diese an sich banale Weisheit ist durch die größte jemals zu diesem Thema durchgeführte Studie, geleitet vom National Institute of Child Health and Human Developement eindrucksvoll bestätigt worden (vgl.: TIME, April, 14, 1997). Wissenschaftler von 14 Universitäten beobachteten mehr als 1300 Kinder von Geburt an bis zum dritten Lebensjahr. Das Ergebnis: Die Qualität der Außer-Haus-Betreuung beeinflusst die Entwicklung der Kinder kaum. Entscheidend für ihre mentale wie emotionale Entwicklung ist dagegen die Art des Familienlebens, d.h. das Maß an Zuwendung und geistiger Stimulation, das sie zuhause erhalten. Gerade ein Prozent der Unterschiede im Entwicklungsniveau der Kinder führen die US-Forscher auf die Qualität der Außer-Haus-Betreuung zurück, aber 32 % auf
unterschiedliche Erfahrungen innerhalb der Familien.
Das ist nicht neu, sondern nur die Bestätigung dessen, was die
Entwicklungspsychologie ohnedies längst weiß: Nie lernen Kinder mehr und gründlicher als in den ersten Lebensjahren. Und niemals hängt der Erfolg des Lernens ähnlich stark von der unmittelbaren Verfügbarkeit und Zuwendung derjenigen Menschen ab, mit denen das Kind ständig zu tun hat. Die Annahme, dass diese Aufgabe von professionellen Kräften außer Haus besser oder auch nur annähernd so gut erfüllt werden kann wie von den Eltern, bewahrheitet sich nicht.
Elternpolitik: Kinder zahlen den Preis
Auf diesem Hintergrund fragt sich, ob die ganztägige Gruppenbetreuung von Kleinkindern tatsächlich das ausschließlich staatlich förderungswürdige Modell sein kann. Es scheint, dass Kinder als die schwächsten Glieder der Gesellschaft den Preis für die Unvereinbarkeit elterlicher Lebenswelten zu bezahlen haben. Der Fortschritt, der aus Müttern Arbeitskräfte gemacht hat, kommt vielfach nur auf Kosten der Kinder voran. Das, was in der Öffentlichkeit gerne als "Familienpolitik" verkauft wird, ist wohl eher "Politik für Eltern" oder gar reine Frauenpolitik; selten ist es Politik für Kinder. Der flächendeckende Ausbau von Betreuungseinrichtungen für Kinder im Alter zwischen null und drei Jahren mag im Interesse aller möglichen Menschengruppen liegen - dass er die beste Lösung für die Kinder sei, wird niemand behaupten können. Die Ganztagsbereuung ist kein Geschenk an die Kinder, sondern ein Geschenk an die Arbeitswelt.
Ginge es nach den Kindern, dann gäbe es wohl eine Revolution in der
Familienpolitik. Vielleicht einen Boykott von Kleinkinderkrippen und
Ganztagshorten; Sitzstreiks in der eigenen Wohnung und Verweigerung der Auslagerung...
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Zum Autor: Dr. Heinz Zangerle ist Psychologe und Psychotherapeut sowie
Lehrbeauftragter an der P. H. Innsbruck.
Vom Autor erschienen:
Einfach erziehen. Die Alternative zu Kuschelpädagogik & Psychoboom.
Ueberreuter 2004.
Praxishandbuch Erziehung. 50 Probleme, Antworten & Lösungen. Ueberreuter
2006.