Elternklagen_Altersversorgung auf Kosten der Familien

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Elternklagen_Altersversorgung auf Kosten der Familien

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Die „Zugrunde-Richter“ oder:
Wie geht es weiter mit den „Elternklagen?"
Zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. April 2022
(1 BvL 3/18 u.a.)
von Dr. Jürgen Borchert, Vorsitzender Richter am Landessozialgericht i.R., Rechtsanwalt


„Nie hat ein Dichter die Natur so frei ausgelegt wie ein Jurist die Wirklichkeit.“
Jean Hyppolyte Giraudoux. Kein Krieg in Troja (Hektor)


„Zum Grundgehalt des Ethos der Juristen, zu dem, was Juristen kennzeichnet und sie von beliebig verfügbaren Rechtstechnikern, die zu Fachidioten werden, unterscheidet, zählt insbesondere das klare Erfassen nicht nur des jeweiligen Sachverhalts und seiner Probleme, sondern auch der sozialen Wirklichkeit in ihrer Gestalt und Veränderung, die das Recht ja ordnen will.“
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Vom Ethos der Juristen, 2. Aufl., Berlin
2011, Seite 37

Erste Vorbemerkung
Wenn man Fragen der „Familiengerechtigkeit“ behandelt, muss man über „Kinderlosigkeit“ sprechen. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass nahezu reflexhaft eine biologistische oder gar moralisierende Sichtweise und die Absicht einer „Bestrafung“ Kinderloser unterstellt wird.
Dieser Kurzschluss ist seit Jahrzehnten zu beobachten. Deshalb sei zum einen der Hinweis vorangestellt, dass wir alle jedenfalls die meiste Zeit im Leben kinderlos sind. Zum anderen, dass Kinderlosigkeit im folgenden Text allein ökonomisch betrachtet wird und sich auf Einsichten stützt, welche am Beginn der Großen Sozialreform 1957 standen, als der Versuch unternommen wurde, die in Bezug auf die Absicherung der Lebensrisiken damals noch kleinfamiliär strukturierte Gesellschaft über „Generationenverträge“ in eine soziale Großfamilie zu transformieren.
Entscheidend beteiligt daran waren der Volkswirt und Mathematiker Wilfrid Schreiber und Oswald von Nell Breuning SJ, Volkswirt, Ethiker und Theologe, damals die unumstrittene Autorität in der Sozialpolitik, bei Arbeitgebern und Gewerkschaften gleichermaßen geschätzt. Sie waren beide lebenslang kinderlos und haben zu dem hier zu behandelnden Sachverhalt folgendes ausgeführt:

„Es ist unabweisbar, dass die Institutionen der Alters- wie der Kindheitsrente mit Notwendigkeit zusammengehören und als Einheit gesehen werden müssen, weil beiden der gleiche einheitliche Tatbestand und dasselbe Problem zugrunde liegen. …
Wer kinderlos oder kinderarm ins Rentenalter geht und, mit dem Pathos des Selbstgerechten, für gleiche Beitragsleistungen gleiche Rente verlangt und erhält, zehrt im Grunde parasitär an der Mehrleistung der Kinderreichen, die seine Minderleistung kompensiert haben.“
Wilfried Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft,
Bonn 1955, S.341

„Die Überlegung, sich im neuen System nur auf den Generationenvertrag zwischen den alten und den aktiven Generationen zu verlassen, ist gut gemeint, aber darin steckt nun ein fundamentaler Rechenfehler! Die heute produktive Generation (die Generation n) übernimmt ein Doppeltes. Erstens die freigebige Leistung an die ihr vorausgegangene Generation (n-1); zweitens die Aufwendungen für die Aufzucht der ihr nachfolgenden Generation (der Generation n +1). Dieses Letztere ist aber das, womit alles steht und fällt; darin – und darin allein – steckt ihre Vorsorge für das eigene Alter, wie selbstverständlich auch die Generation -1 die entscheidende Leistung für ihr eigene Altersversorgung dadurch erbracht hat, dass sie die Generation n aufzog…. Es genüge die Feststellung: solange die Frage des Familienlastenausgleichs nicht geklärt ist, solange wir einen Familienlastenausgleich, der wirklich das ist, was er sich nennt, nicht haben, solange hängt die ganze Altersversorgung und die Diskussion darüber in der Luft.“
Oswald von Nell-Breuning SJ, 1955/56

Darum und um nichts anderes geht es hier: Um Fragen ökonomischer und allein deshalb auch ökologischer Verteilungsgerechtigkeit. Um unsere Kinder. Um unsere Zukunft. Unser Sozialversicherungssystem leugnet diese einfachen Zusammenhänge. Es ist gegenüber Kindern „strukturell rücksichtslos“3 und es ist die Hauptursache des stetigen Wachstums der Kinderarmut seit Jahrzehnten. Damit finden wir hier auch eine kardinale Ursache der jetzt explodierenden Altersarmut.4 Die Sozialversicherung ist zum Sprengsatz an der Demokratie geworden
Mit den „Elternklagen“6 war die Hoffnung verbunden, diesen Sprengsatz noch entschärfen zu können. Seiner Verantwortung für „die Stabilität und das Gleichgewicht des Ganzen“ ist das Bundesverfassungsgericht mit dem Beschluss vom 7. April 2022 jedoch nicht gerecht geworden. Im Gegenteil.

Zweite Vorbemerkung
Wie geht es weiter? Gute Frage. Wir müssen die Antwort wohl zweiteilen. Zuerst müssen wir doch fragen, warum wir denn eigentlich mit den „Elternklagen“ überhaupt angefangen haben? Das werden wir hier in der Vorbemerkung noch einmal reflektieren. In Teil I erfolgt sodann die Analyse des Beschlusses und in Teil II sollen die juristischen Konsequenzen erörtert werden.

Zum ersten Teil der Frage:
Klar, wir haben mit den Elternklagen angefangen, weil die Politik mit der Sozialversicherung ein gegenüber Kindern und Familien „strukturell rücksichtsloses“ Sozialsystem etabliert hat.
Schon die Erfinder des neuen Systems haben vor der „Transferausbeutung“ gewarnt, welche die kurzsichtige Politik 1957 gegen den Rat der Fachleute und ihren warnenden Alarm ins Werk gesetzt hat: Es könne nur im vollkommenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Desaster enden, wenn man die Erträge der Kindergeneration für die Alten sozialisiere, die Kosten ihrer Aufbringung aber privatisiere.
Der „Schreiberplan“, die Blaupause für die Rentenreform 1957, hatte auch die Kinderkosten mit einer balancierenden „Kindheitsrente“ vergesellschaften wollen; das hätte aber die Höhe der neuen Altersrente auf 50 Prozent der Bruttoeinkommen begrenzt. im Wahljahr 1957 wollte Bundeskanzler Konrad Adenauer die Rentner jedoch mit 60 Prozent beglücken und amputierte die Kinderrente deshalb kurzerhand aus dem Konzept.7 Das Verhängnis in Gestalt der doppelten Kinderarmut nahm seinen Lauf, wie von den Erfindern des neuen Systems vorausgesagt.
Um diesen Kardinalfehler der Sozialisierung des Altenunterhalts bei gleichzeitiger Kinderaufbringung auf elterliche Privatkosten geht es. Im Interesse unserer Kinder und ihrer Generationen wollten wir durch die Elternklagen mit Hilfe des „Gleichgewichtsorgans Bundesverfassungsgericht“ die Ungerechtigkeiten beseitigen, unter denen die Kinder am meisten leiden, die sie fast schon mit der Muttermilch zu spüren bekommen. Das Unheil zunehmender Deklassierung war ja bereits Ende der 1980er Jahre nicht mehr zu übersehen; selbst die Spitzen der Rentenversicherung machten
sich für fundamentale Korrekturen der Kinderberücksichtigung stark.8 Kinder haben keine Stimmen, sie zu überhören ist deshalb nicht schwer. Aber auch Eltern mit unterhaltsberechtigten Kindern im Haushalt sind eine verschwindende Minderheit im Wahlvolk geworden, machen kaum noch 20 Prozent aus. Die ü55-Jahrgänge befinden sich als „demokratische Mehrheit“ mittlerweile am politischen Wahlhebel.

Die Geburtsstunde unseres Problems, nämlich das „Sterntalermärchen“ der Rentenreform des Wahljahres 1957, das Rentnern ohne vorherige Beitragszahlung in das neue System über Nacht lohnersetzende und ebensstandardsichernde Renten schenkte, dafür das familiäre Unterhaltssystem aushebelte und Eltern zwang, auf Kosten ihrer Kinder die Gratisvorsorge für Kinderlose „auf die Beine zu stellen“, war die Folge des Stimmenkaufs der Alten durch Bundeskanzler Konrad Adenauer und seiner Union. Sie sahen damals die Nachwuchsgeneration als natürliche Ressource, über die man nicht nachdenken musste, weil sie einfach da war (Adenauer: „Kinder haben die Leute immer!“). Die Warnungen der Fachleute schlugen sie in den Wind: „Wir lassen uns auch durch den besseren Sachverstand nicht überzeugen!“, rief MdB Seebohm im Bundestag.
Genau wie beim Raubbau an der Natur fand seitdem und findet bis heute ein gnadenloser Raubbau am Humanvermögen 10 statt. Das wirtschaftliche Bewusstsein und Denken ist in beiden Fällen identisch.11 Unglaublich, aber wahr: Die Politik hieß diesen dramatischen Geburtenrückgang ausdrücklich willkommen, eröffnete er doch die Möglichkeit, aus den freiwerdenden Geldern die parallel zur Unterjüngung wachsenden Altenlasten zu stemmen12; man reparierte das Dach mit Material aus dem Fundament!

Der Verzicht auf Kinder schlug sich in den volkswirtschaftlichen Bilanzen in Gestalt wachsender Frauenerwerbstätigkeit und Konsumsteigerung auf der Habenseite der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) nieder. In völliger Verkennung der Realitäten entstand so eine Wohlstandsillusion, wo, richtig gerechnet, in Wahrheit gewaltige Wohlstandsverluste eintraten – ganz analog zur Ausbeutung der Umweltressourcen.
Würde man die anerkannten Abschreibungsregeln für das Sachvermögen ebenso auf das Humankapital (und die Umweltressourcen wie sauberes Wasser, gesunde Luft etc.) anwenden, würde mit kaufmännischer Rationalität eine desaströse volkswirtschaftliche Bilanz offengelegt: Dass nämlich die Verluste an Humankapital die Zuwächse beim Realkapital bei weitem übersteigen.
Das Fazit wäre dann die Einsicht, dass unsere Volkswirtschaft durch den jahrzehntelangen Abbau des Humanvermögens „künstlich aufgeblasen“ wurde. Die hierdurch induzierte Expansion der Erwerbswirtschaft suggerierte einen Zuwachs der Wirtschaftsleistung und der Wohlfahrt, der in krassem Widerspruch zur Entwicklung des Volksvermögens steht, dessen wesentliche Determinante das Humanvermögen ist. 13
Solange freilich das Volumen verfügbarer Arbeit infolge des „Babybooms“ der Nachkriegszeit, der Zunahme der Frauen- und Müttererwerbstätigkeit, der medizinischen Erfolge bei der Bekämpfung der Mütter – und Säuglingssterblichkeit sowie der zunehmenden Lebensverlängerung stetig stieg, wurde diese Konsequenz nicht sichtbar. Tatsächlich verstärken sich die Umweltzerstörung und diese „Innenweltzerstörung“ wechselwirkend, weil erst der krasse Einkommensüberhang bei dem wachsenden Anteil der Nichtfamilien (infolge Kinderlosigkeit, aber auch wachsender Lebenserwartung und damit unterhaltsfreier Zeit im Leben) jenen massenhaften Luxuskonsum ermöglichte, aus welchem die schlimmsten Umweltsünden bis heute resultieren.
Rentner, denen mit der Rechtsfigur des „durch Art. 14 GG geschützten Eigentums an Anwartschaften“ vorgegaukelt wird, sie verfrühstückten im Alter nur ihre eigenen Beiträge, können nicht kapieren, dass ausnahmslos jeder Cent von der Nachwuchsgeneration stammt.
Statt in wohlverstandener Rücksichtnahme im eigenen Interesse auch auf die Interessen der Nachwuchsgeneration zu achten, ist bis heute immer noch rücksichtsloser Individualismus Trumpf, gespeist aus der Illusion selbst aus eigener Kraft Herr seiner Zukunft und auf niemanden angewiesen zu sein. Man muss die Dinge transparent machen: In übersichtlichen Gemeinschaften wie einem Bergbauernhof käme der alte Bauer im Traum nicht auf die Idee, seinen Wald bis auf den letzten Baum abzuholzen und dann unter Verweis auf seine hervorragenden Bilanzen „lebensstandardsichernde“ Renten einzufordern.
In der über 42.000 Berufe und Berufsbilder umfassenden arbeitsteiligen Abstraktion der Geldwirtschaft ist es aber genauso: Die Energiewirtschaft, die mit der „Asse“ die Zukunft der ganzen norddeutschen Tiefebene aufs Spiel setzt, zahlt die höchsten Löhne, aus denen dann die höchsten Renten resultieren. Umgekehrt halten nicht wenige ökologisch Interessierte den Nachwuchs selbst für ein Problem. Das wird an Diskussionen deutlich wie „Was ist umweltfreundlicher? Auto oder Kind?“ 15 bzw. „Klima oder Kinder?“
Hier ist die Erkenntnis noch nicht durchgedrungen, dass nicht der Nachwuchs das Problem ist, sondern die Verteilung der Konsumeinkommen. Warum müssen denn Senioren und Singles pro Kopf doppelt oder dreimal so viel Wohnraum zur Verfügung haben wie eine vier- oder fünfköpfige Familie zusammen? Wer fliegt mal kurz übers Wochenende nach Mallorca? usw.

Außerdem wird man in der Klimawende ohne Bildungsfortschritte nicht vorankommen. Es bedarf des intellektuellen Begreifens, um zu verstehen, was da auf uns zukommt. Genau darum geht es auch bei den „Elternklagen“: Dass die Erdrosselungswirkung der Sozialversicherungsbeiträge massenhaft Kinderarmut produziert – mit dem Resultat massenhafter Vernichtung von Bildungspotentialen.
Deshalb, bevor wir in die Analyse des mehr als fragwürdigen Beschlusses (so viel nehme ich mal vorweg) eintreten, mein Vorschlag wie es jenseits des juristischen Kampfes, der auch noch zu führen sein wird, weitergehen sollte: Nämlich mit einer Zukunftsdebatte, die beide Seiten, die Umwelt wie die Innenwelt, gleichermaßen in den Blick nimmt.
Bei beiden geht es um die gleichen Probleme und um die gleiche Unfähigkeit der partikularistisch organisierten Demokratie, sie zu lösen:
Das erste Problem ist die altbekannte „Rationalitätenfalle“, nämlich die Konkurrenz kurzfristiger Genüsse um den Preis langfristiger Schäden einerseits oder langfristiger Genüsse um den Preis kurzfristiger Verzichte andererseits. Ihr fällt die in 4-Jahres-Perioden getaktete Politik fast zwangsläufig zum Opfer, weil stets der Genuss der Selbsterhaltung, nämlich des nächsten Wahlerfolges, das vorrangige Ziel ist und nicht das Wohl der nächsten oder gar übernächsten Generation. Geschenke an die Alten auf Kosten der nicht wahlberechtigten Kinder versprechen den schnellen Gewinn: Diesem Muster folgte seit Adenauer 1957 bisher per Saldo noch jedes siegreiche Wahlprogramm.

Das zweite Problem beschreibt das „Forsthoffsche Paradoxon“, benannt nach dem Staatsrechtler Ernst Forsthoff. Es besagt, dass partikularistisch organisierte Demokratien (wie unsere) ausgerechnet ihre fundamentalsten Interessen systembedingt aus den Augen verlören, weil nämlich die Verwirklichungschancen eines Interesses um so geringer sind, je allgemeiner dieses Interesse ist: "Es liegt in der Natur der Sache", schrieb Forsthoff, „daß ein Interesse, je allgemeiner es ist, mit immer mehr Einzelinteressen unweigerlich in Widerspruch tritt und schließlich keinen organisierten gesellschaftlichen Patron mehr findet, der sich für die Realisierung einsetzt.“
Allgemeinere gesellschaftliche Interessen als die Sorge um die Zukunft der Nachwuchsgenerationen gibt es nicht.
Das dritte Problem wird in der Politischen Soziologie als „Kapp-Theorem der Selbstverstärkung sozialer Prozesse“ bezeichnet, benannt nach dem Pionier der Umweltökonomie William Kapp, der dieses Phänomen wie folgt beschrieb:

"Soziale Prozesse lösen eben keine Tendenz zur automatischen Selbststabilisierung aus, sondern unterliegen im Gegenteil dem sozialen Beharrungsvermögen, welches das System in der Richtung des ersten Impulses weiterbewegt. Das System bewegt sich von selbst nicht in der Richtung eines Gleichgewichts zwischen den Kräften, sondern es entfernt sich ständig davon. Im Normalfall ruft eine Veränderung nicht entgegengesetzte Veränderungen hervor, sondern im Gegenteil unterstützende Veränderungen, die das System in die gleiche Richtung drängen
wie die erste Veränderung, aber viel weiter."
Die Schlüssigkeit dieses Theorems unterstreicht bspw. die Selbstverstärkung kinderloser Lebensentwürfe, schon weil nicht geborene Kinder keine Kinder bekommen. Hermann Adrian ermittelte für den Bundestag, dass dort der Anteil kinderloser Abgeordneter über die Jahrzehnte stetig wuchs und mittlerweile die Mehrheit bildet. Auch die letzten drei Bundeskanzler von Schröder bis Scholz haben keine eigenen Kinder. Der Kontakt zur Zukunft der Kinder geht verloren. Überdies sind die Abgeordneten wie die übrigen „Eliten“ sozialversicherungsfrei: Sie machen nur die Gesetze, die die Beamten ausführen und die Richter judizieren. Die Zwei-Klassen-Suppe, die ihnen diese Eliten einschenken, muss dann die sozialversicherte Nicht-Elite mit ihren Kindern auslöffeln. Ohne dass eine ganz große Sozialreform, die alle Bürger in einer großen sozialen Familie unter einem Dach versammelt, die Lasten und die Leistungen nach gleichen Maßstäben gerecht verteilt, Privilegien ausmerzt und Verantwortung für einander durch vollständige Transparenz wahrnehmbar macht („Solidarität“) werden wir das nicht hinbekommen. Deshalb noch einmal:
Weil die Probleme gleicher Natur sind und sich nur zusammen lösen lassen, gehören die ökologische Bewegung und die „Elterninitiative gegen Kinderarmut und Zukunftsausbeutung“ zusammen. Vielleicht muss man sogar eine neue ökosoziale Partei gründen, in der diese Strömungen zusammenfinden (z.B. „Die Nachhaltigkeitspartei: Natürlich gerecht!“).
Die Zeichen für die ganz großen Lösungen stehen dabei vielleicht gar nicht einmal so schlecht. Denn seit einigen Jahren ist auch die epochale Zeitenwende nicht mehr zu übersehen, die sich unter den Stichworten „Pflegenotstand“ und „Fachkräftemangel“ in den Vordergrund schiebt. Ersterer beruht, was nur die wenigsten noch wissen, auf der Tatsache, dass wir mit der Pflegeversicherung ein Erbschaftsschutz – und Vermögensschon-Gesetz installiert und das „Schenken von Zeit“ der Logik des Marktes überantwortet haben. Betrugen die öffentlichen Pflegekosten unter dem Regime der Sozialhilfe 1994 (mit vergleichsweise rigorosen Anrechnungen und Rückgriffen) noch nur 11 Milliarden DM, hatten sie sich unter dem neuen Regime der Pflegeversicherung 1996 dann gleich mit rund 40 Milliarden DM nahezu vervierfacht. Dafür, dass besitzende Pflegebedürftige ihr Vermögen ungeschmälert vererben können, müssen Familien auf Kosten des Unterhalts, oft sogar der Existenzminima ihrer Kinder nicht selten ihr „letztes Hemd hergeben“. Auch 1994 war übrigens ein Wahljahr!

Der Fachkräftemangel zum anderen resultiert nicht nur aus der Geburtenarmut, sondern zusätzlich aus der Vernichtung der Bildungspotenziale auf breiter Front – vor allem infolge der parafiskalischen Erdrosselungsspirale mit ihren Deklassierungseffekten bei Familien. Es sind die Rechnungen, welche jetzt der Raubbau am Humanvermögen mit Wucht präsentiert: Dass die Politik über Jahrzehnte nicht verhinderte, dass Kinder umso mehr in Armut gerieten, je niedriger die Geburtenzahlen sanken.
Seit bald drei Jahrzehnten beschreiben die Kinder– und Jugendberichte eine sich beschleunigende Entwicklung, die mit der Kinderarmut parallel läuft: Sie beginnt mit einer Zunahme an manifesten gesundheitlichen Beeinträchtigungen und/oder Verhaltensauffälligkeiten bei Einschulungskindern (Quoten bis zu 30 Prozent) und endet mit mehr als 20 Prozent der Schulabgänger, welche die Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens nicht so beherrschen, dass sie wenigstens als Hilfskräfte auf dem Arbeitsmarkt Verwendung finden.
Dass Deutschland wegen seiner Familien- und Bildungsverarmung im Kreis der führenden Industrienationen eine negative Spitzenstellung einnimmt, monierte der UNO Sondergesandte Vernor Munoz in seinem Bericht vom 15. März 2007 an das „Human Rights Council“: In keinem anderen Industrieland sei ein so enger schichtenspezifischer Zusammenhang zwischen Armut und Bildung bei Kindern feststellbar wie in Deutschland. Er bestätigte damit letztlich nur den „Zweiten Armutsbericht“. Dort ist nachzulesen, dass die Chance eines Kindes, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen, fast dreimal so hoch ist, wenn es aus einem Elternhaus mit hohem sozialem Status kommt, als wenn es ein Facharbeiterkind ist. Seine Chance, ein Studium aufzunehmen, sei „sogar 7,4-fach größer als die eines Kindes aus einem Elternhaus mit niedrigem sozialen Status.“
Jahrzehntelang haben wir unsere Alten mit den Einsparungen am Humanvermögen finanziert, haben so das „Material für das Dach dem Fundament entnommen“. Jetzt wankt die ganze Konstruktion von Staat und Gesellschaft. Die jahrzehntelange Wohlstandsillusion platzt wie eine Seifenblase. Damit ist der Zeitpunkt gekommen, an dem laut Kapp die Interessen der Eliten plötzlich selbst im Feuer stehen. Und sobald die Eigeninteressen der Eliten nur empfindlich genug getroffen werden, ist der Punkt erreicht, an dem die ganz großen Veränderungen möglich werden.
Spätestens dann wird auch das Bundesverfassungsgericht kapieren, dass massenhafte Existenzängste, wie sie die Sozialversicherung exponentiell zunehmend produziert, die Türen für Extremisten weit öffnen- und dass es seine Verantwortung für „das Gleichgewicht und die Stabilität des Ganzen“ wahrnehmen muss, wenn dieser Staat und mit ihm das Gericht selbst Bestand haben soll. Mit dem Beschluss vom 7.4.2022 jedenfalls hat es versagt.
Deswegen stehen wir nicht am Ende des Kampfes, sondern an einem neuen Anfang.

Teil 1: Analyse des Beschlusses
Einleitung
Nach 16jähriger Verfahrensdauer seit dem Rechtswegstart in 200629 beantwortet der Beschluss vom 7. April 2022 (1 BvL3/18)30 die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem „Beitragskinderurteil“ vom 3. April 200131 offengelassene und in der Literatur umstrittene Frage, ob dessen Einsichten betreffend die „konstitutive“ Bedeutung der Kindererziehung als „generativer Beitrag“ für den Systemerhalt auf die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) beitragsäquivalent zu übertragen sind,
32 nun wie folgt (Leitsatz 3 Satz 2):

„In der gesetzlichen Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung begründet die gleiche Beitragsbelastung von Eltern und Beitragspflichtigen ohne Kinder <dagegen> keine Benachteiligung der Eltern, weil durch die rentenrechtliche Anerkennung von Kindererziehungszeiten und die beitragsfreie Familienversicherung im Krankenversicherungsrecht ein hinreichender Nachteilsausgleich erfolgt (Rn.334) (Rn.360).“
Thorsten Kingreen, der dieses Ergebnis „kontraintuitiv“33 findet, hat sicher recht. Es ist aber noch etwas anderes sehr bemerkenswert, weil es bereits im Ansatz entweder eine Wahrnehmungsstörung des Gerichts im Hinblick auf die Wirklichkeit und/oder einen massiven Widerspruch in der Argumentation oder, wofür letztlich alle Anhaltspunkte sprechen, gar einen Willkürakt nach Art des „Prokrustes“ präsentiert, um den Sachverhalt für den von vornherein gewünschten Maßstab passend zu machen. Denn obwohl das Gericht im weiteren Zusammenhang stets von „Nachteilen und deren Beseitigung/Ausgleich“ spricht, stellt es an den Anfang seiner Entscheidung die Behauptung, das Begehren der Kläger - und Beschwerdeführer ziele auf eine „beitragsrechtliche Privilegierung“ ab (Rn. 2).
Auffallend – und passend zu dieser Verkehrung des Begehrens und der Wirklichkeit – ist dann weiter die Tatsache, dass das Gericht im Begründungsteil des Beschlusses für die beiden vorgenannten Systeme (ab Rn. 333 bis 367) jegliche Auseinandersetzung mit seiner vorangegangenen maßgebenden Rechtsprechung vermeidet, auf welche die Kläger sich gestützt hatten, nämlich das Beitragskinderurteil und das „Trümmerfrauenurteil“ vom 7. Juli 1992.

Ersteres wird dort kein einziges Mal erwähnt und letzteres wird eingangs der Prüfung der GRV zwar zitiert, allerdings nur auszugsweise unter randscharfer Auslassung von dessen Feststellungen, welche das Gericht damals anhand des durch Art. 6 Abs. 1 GG scharf gestellten Gleichheitssatzes getroffen hatte:
Zum einen betreffend die Familien benachteiligenden Strukturen des Rentensystems, welche sich aus der Negierung der Wirklichkeit des „Dreigenerationenvertrags“ ergeben (= Sozialisierung der Altenlast bei privatisierter Kinderlast im Rentenrecht); zum anderen werden jene Feststellungen ausgeklammert, welche die elterlichen Nachteile in den komplementären Zusammenhang der Vorteile auf Seiten der Kinderarmen stellen. Auf die Tatsachengrundlage der „Wirklichkeit des Dreigenerationenvertrags“ hatte das BVerfG bekanntlich seine allgemein als „sensationell“ bewertete Qualifizierung der Kindererziehung als den pekuniären Beiträgen prinzipiell äquivalenten „generativen und konstitutiven Beitrag für den Erhalt der Systeme“ gegründet. Mit der Folge des Verfassungsauftrags, ihm auf der Beitragsseite normativ Rechnung zu tragen, um Recht und Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Hierauf wird unten noch näher einzugehen sein.
Mittels dieser Verdrehung des wirklichen und vielfach dokumentierten konträren, auf Beseitigung ihrer Diskriminierung gerichteten Klägerbegehrens will der Senat offensichtlich die scharfe Verteilungsdebatte zwischen Familien und Nichtfamilien ausklammern, welche aus den beiden vorangegangenen Urteilen zwangsläufig folgt :
Grundrechte entfalten ihre volle Wirkung v.a. als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe. Wer aber Privilegien begehrt, der wehrt sich nicht gegen Benachteiligungen, sondern wünscht Bevorzugungen. Mithin kommt das harte Abwehrgrundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG nicht zur Anwendung, welches die Vorgängerurteile zum Maßstab nahmen! Tatsächlich handelt es sich hier um eine Verbiegung der Wirklichkeit, die schwerlich mit dem Wahrheitsgebot vereinbar ist, an welches Richter gebunden sind:
Denn die Kläger haben sich von Anfang an gegen ihre gravierende Benachteiligung in den intergenerationell verteilenden Sozialsyteme gewehrt - dass sie nämlich gezwungen werden, auf ihre Privatkosten und zu Lasten ihrer Kinder die Gratisvorsorge für Kinderlose auf die Beine zu stellen.
Dass sie gravierend und verfassungswidrig benachteiligt werden, ist die Quintessenz des BVerfG in seinen Urteilen von 1992 und 2001. Worin soll dann die „Privilegierung“ bestehen? Das erklärt das Gericht im Beschluss genausowenig wie den offenen Widerspruch, der sich aus der Tatsache ergibt, dass es ja „Nachteile“ der Eltern identifiziert, was mit der behaupteten „Privilegierung“ naturgemäß nicht auf einen Nenner passt. Das ist nichts weniger
als konfus.
Genauso wirklichkeitsfremd sind aber die vom BVerfG behaupteten Nachteilsausgleiche. Was diese betrifft, wird später nachzuweisen sein, dass bei nüchterner ökonomischer Betrachtung davon nicht nur nichts übrig bleibt, sondern die acht Verfassungsrichter die Augen fest vor Nachteilen in astronomischen Höhen verschlossen haben. Ohne eigene fachwissenschaftliche Kompetenz sowie ohne Zuhilfenahme fachwissenschaftlichen Sachverstands stellt das BVerfG ökonomische Behauptungen auf, welche bereits seit der mündlichen Verhandlung des Trümmerfrauenurteils
Makulatur waren38 und welche die Kläger auch in den vorliegenden Verfahren erneut durch Expertisen renommierter Wissenschaftler widerlegt haben; auch mit diesen verweigert das Gericht vorliegend jegliche ernsthafte und sachliche Auseinandersetzung.

Noch einmal: Die Kläger greifen gesetzliche Regelungen der GKV und der GRV an, welche per Saldo eingreifende Wirkungen haben. Für die Prüfung von deren Verfassungsqualitäten stellt das Grundgesetz den Maßstab des durch Art. 6 Abs. 1 GG scharf gestellten Gleichheitssatzes zur Verfügung. Dieser wurde vom Gericht in seiner vorangegangenen ständigen Rechtsprechung ausnahmslos zur Beurteilung der Familiengerechtigkeit gesetzlicher Regelungen verwendet und fand insbesondere im Verhältnis zu Nichtfamilien Anwendung. Im Beschluss wird dieser Maßstab vom Gericht bei der Prüfung der Verteilungsverhältnisse in der GRV und GKV ebenso fallen gelassen wie die diesbezüglichen Einsichten der vorangegangenen Judikatur von 1992 und 2001 insgesamt. Art. 6 Abs. 1 GG findet im neuerlichen Beschluss Anwendung nur bei der Prüfung der kinderzahlunabhängigen Beitragsregelungen der Pflegeversicherung innerhalb der Gruppe der Familien; hier erkennt das Gericht dann allerdings prompt eine verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem.
Bei den Regelungen der GKV und GRV, welche Eltern ungleich gravierender belasten, sucht man ihn vergeblich.
Dass und warum das Gericht seine jahrzehntelang maßgebende Judikatur so vollständig, unvermittelt und gleichzeitig sang- und klanglos aufgegeben hat, die es 1992 und 2001 „Im Namen des Volkes!“ verkündet hat, dazu schweigt das Gericht- ebenfalls „Im Namen des Volkes“? Unwillkürlich fragt sich der Leser, ob Deutschland ein Vielvölkerstaat ist: Denn 1992 ebenso wie 2001 hat das Gericht den Maßstab des mittels Art. 6 Abs. 1 GG scharf gestellten Gleichheitsatzes vor allem im Vergleich mit der Gruppe der Kinderlosen verwendet und an die wirklichen Verteilungsverhältnisse der Rentenversicherung auf der Leistungsseite und der Pflegeversicherung auf der Beitragsseite angelegt- mit dem Ergebnis, , dass diese Systeme ohne nachwachsende Generation zusammenbrechen, weshalb die weitgehende Nichtberückichtigung der Erziehungsleistung in diesen Systemen mit dem vorgenannten Maßstab unvereinbar ist.
Dass die Systeme ohne die „Generation n +1“ zusammenbrechen, ist eine der juristischen Betrachtung vorgegebene realökonomische Grundtatsache (vergleichbar dem Verhältnis von Schwerkraft und Physik), die keineswegs nur das Umlageverfahren, sondern auf der gesamtwirtschafltichen Ebene auch für das Kapitaldeckungsverfahren gilt. Die Grundtatsache ist, dass aller Sozialaufwand immer und ausnahmslos aus dem laufenden Volkseinkommen abgezweigt werden muss, welches die jeweils aktive Generation erwirtschaftet. Diese in der wissenschaftlichen Sozialpolitik dem Kieler Volkswirt Gerhard Mackenroth zugeschriebene „Mackenroth-These“44 legte den Grundstein für die Reformdebatte der 1950er Jahre, welche in die Große Rentenreform von 1957 mündete, welche Bundeskanzler Adenauer so „gründlich vermurkst hat“ (Nell-Breuning).
Mit der These der „Ungleichartigkeit“ versuchte das BVerfG im Trümmerfrauenurteil die Frage der „Beitragsäquivalenz“ der Kindererziehung noch zu umschiffen, weil man dem Gesetzgeber die Chance geben wollte, die großen Tanker „Sozialsysteme“ in kleineren Korrekturschritten umzusteuern. 45Wie nachzulesen ist, hinderte diese Absicht das Gericht aber nicht daran, die massiven Familienbenachteiligungen unmissverständlich zu benennen.
Den großen Schritt, den es 1992 noch nicht wagte, machte das BVerfG dann mit dem Beitragskinderurteil, in welchem es die elterliche Erziehungsleistung als „generativen Beitrag von konstitutiver Bedeutung“ qualifizierte, welcher für den Fortbestand der Systeme konstitutiv und den pekuniären Pflichtbeiträgen gleichwertig („äquivalent“) ist; tatsächlich waren im Jahr 2001 die verhängnisvollen Folgen der Geburtenarmut deutlicher als noch neun Jahre zuvor erkennbar. In diesem Urteil von 2001 hat das Gericht abstrakt zugleich die Grundsätze und Kriterien formuliert, anhand derer auch die „Dreigenerationenverträge“ in der GRV und GKV zu prüfen sind. Diesen
Prüfauftrag hat es dem Gesetzgeber ausdrücklich erteilt und es ging in den vorliegenden Verfahren um die in genau diesem Beitragskinderurteil gestellte Frage, wie die Reaktion des Gesetzgebers denn nun verfassungsrechtlich zu beurteilen ist, der mit Kinderberücksichtigungsgesetz 2004 nur bei der sPflVmit der Beitragserhöhung für Kinderlose um 0,25 Beitragspunkte reagierte, für die GRV und GKV bereits wenige Tage nach der Verkündung des Beitragskinderurteils jedoch jeglichen Reformbedarf öffentlich verneinte. Mit dem Urteil von 2001 hat das Bundesverfassungsgericht „Recht“ geschaffen, an welches auch das Gericht selbst gemäß Art. 20 Abs. 3 GG gebunden ist.47 Es verstößt deshalb gegen das Rechtsstaatsprinzip, wenn das Gericht nun sein eigenes Urteil und dessen Maßstäbe bei der Beantwortung der darin selbst aufgeworfenen Frage kommentarlos über den Haufen wirft. Selbstverständlich kann das Gericht mit seiner eigenen Rechtsprechung brechen, muss das dann aber zur Vermeidung einer unzulässigen Überraschungsentscheidung den nichtsahnenden Klägern mit der Gelegenheit zur Stellungnahme mitteilen („rechtliches Gehör“) und begründen. Dieses fundamentale Grundrecht der Kläger hat das BVerfG vorliegend mit Füßen getreten:
Weder wurden sie vom Gericht auf die Absicht der grundlegenden Änderung seiner Judikatur vorab mit der Gelegenheit zur Stellungnahme hingewiesen, noch fand die zwingend gebotene mündliche Verhandlung statt – und das bei einem Sachverhalt, der nicht nur für fast 90 Prozent der Bevölkerung Deutschlands gewaltige ökonomische Konsequenzen, sondern für „die Stabilität und das Gleichgewicht des Ganzen“ enorme Auswirkungen hat!

A. Die Aufgabe der eigenen Judikatur und das Echo der Literatur In Anbetracht der Tatsache, dass der Beschluss mit der – ebenfalls nicht weiter erklärten – Behauptung beginnt, das Begehren der Kläger ziele auf eine beitragsrechtliche Privilegierung“ ab (Rn. 2) begegnet die Analyse von Anfang an einer irrealen, die Wirklichkeit vollständig verdrehenden Rezeption des Sachverhalts, indem das Gericht nicht nur die benachteiligenden Verteilungswirkungen der streitgegenständlichen Systeme zu Lasten sozialversicherter Eltern und Kinder in der sozialen Wirklichkeit, jahrzehntelang Konsens der Fachleute und des BVerfG, nunmehr weitestgehend leugnet – sondern zugleich das Begehren der Kläger auf Beseitigung ihrer milliardenschweren Nachteile auf den Kopf stellt.
Niemals zuvor kam irgend ein anderes der vielen Instanzgerichte einschließlich des Bundessozialgerichtes (BSG) auf die Idee, das Begehren der Kläger als „beitragsrechtliche Privilegierung“ zu qualifizieren. Von Anfang an hatten die Kläger sich im Gegenteil gegen den von den streitbefangenen Systemen ausgeübten Zwang zur Wehr zu setzen versucht, dass sie mittels ihrer Kindererziehung auf Privatkosten die Gratisvorsorge und -versorgung ihrer kinderlosen und kinderarmen Jahrgangsteilnehmer „auf die Beine stellen müssen“.
Genau dieser den Familien auferlegte Zwang zur Produktion von „positiven externen Effekten“ und die „Transferausbeutung“ der Familien standen im Fokus der vorangegangenen Karlsruher Urteile, auf welche die Kläger sich gestützt haben; dort wurde die Behandlung der Familien durchgängig als „Benachteiligung“ qualifiziert. Noch einmal: Wer das als „Privilegierung“ bezeichnet, signalisiert von Anfang eine mangelnde Kenntnisnahme des Klägervorbringens, logische Inkonsistenzen und/oder willkürliche Veränderungen am Streit – und Untersuchungsgegenstand.
Nachfolgend sollen zunächst die Aufgabe der eigenen Judikatur mit den darin verwendeten Maßstäben durch das Gericht und dabei insbesondere die Passagen des des Trümmerfrauenurteils beleuchtet werden, welche der 1. Senat gezielt und randscharf aus der Beurteilung der Verteilungswirkungen der streitbefangenen Systeme ausgeklammert hat; daran anschließend soll untersucht werden, was die bisher veröffentlichte Literatur zum Beschluss sagt.
I. Aufgabe der eigenen Judikatur und des Maßstabs des Art. 6 Abs. 1 GG Das „Trümmerfrauenurteil“ wird vom Gericht in der der Entscheidung in JURIS vorangestellten Liste der zitierten Rechtsprechung zwar angegeben und bei der Prüfung der rentenversicherungsrechtlichen Behandlung der Familien eingangs erwähnt (in Rn. 339), jedoch nach der Einschränkung des Prüfungsmaßstabs auf allein den Gleichheitssatz (Rn. 333); zudem wird es nur sehr selektiv rezipiert. Eine Erklärung hierzu ist nirgends ersichtlich.
Das „Beitragskinderurteil“ findet zwar insgesamt 26 x Erwähnung, aber nur im Sachbericht sowie bei den Ausführungen zur Pflegeversicherung (zuletzt in Rn. 319); in der vorangestellten Liste der zitierten Rechtsprechung in der JURIS-Datenbank wird es ebenso wenig erwähnt wie bei den anschließenden Erörterungen zur Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Begründungsteil (ab Rn 333 des Beschlusses). Mitsamt dem Maßstab des Art. 6 Abs. 1 GG wurde es stillschweigend fallengelassen.
Im Beschluss verwendet das Gericht den Maßstab des Art. 6 Abs. 1 GG nur noch im Verhältnis der Familien mit unterschiedlichen Kinderzahlen untereinander bei der Pflegeversicherung (und gelangt hier prompt zur verfassungsrechtlichen Beanstandung!). Im Vergleich zu der bisherigen Judikatur, die dieses Abwehrrecht der Familien gerade auch im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Gruppen scharf stellte, wird das Grundrecht hier bis zur Unkenntlichkeit marginalisiert und entfunktionalisiert.
Warum soll Art. 6 Abs. 1 GG nur innerhalb der Familien mit unterschiedlicher Kinderzahl eine Rolle spielen, jedoch nicht im Verhältnis von sozialversicherten Familien mit zwei und mehr Kindern zu kinderarmen und kinderlosen Sozialversicherten oder auch Sozialversicherungsfreien? Erneut schweigt das Gericht zu der Frage, warum es an das „Recht“ nicht gebunden ist, das einst von ihm selbst geschaffen wurde und konträr zum Beschluss steht. Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als das Gericht in den vorliegenden Verfahren Fragen zu beantworten hatte, welche es
selbst im Beitragskinderurteil aufgeworfen hatte!

II. Selektive Zitierung des Trümmerfrauenurteils: Die Auslassungen
Analysiert man die Passagen des Trümmerfrauenurteils, welche das Gericht im neuerlichen Beschluss ausgeklammert hat, so wird der Befund unterstrichen, dass das Gericht gezielt jene Einsichten seiner früheren Judikatur übergeht, welche im Prüfungsradius des Art. 6 Abs. 1 GG das Nachteil-/Vorteil-Verhältnis zwischen Eltern und Kinderarmen betreffen:

1. Die zitierten Inhalte
In Rn. 139 des Beschlusses heißt es zum Trümmerfrauenurteil wörtlich:
„Mit dem sogenannten "Trümmerfrauenurteil" vom 7. Juli 1992 hatte das BVerfG dem Gesetzgeber aufgegeben, die kindererziehungsbedingten Nachteile in weiterem Umfang als bisher auszugleichen (vgl. BVerfGE 87, 1 <39> sowie den 2. Leitsatz der Entscheidung). Die seinerzeit vorgesehene Ausgestaltung der Rentenversicherung führe im Ergebnis zu einer Benachteiligung der Familie, namentlich der Familie mit mehreren Kindern. Trotz der bestandssichernden Bedeutung der Kindererziehung für das als Generationenvertrag ausgestaltete System der Altersversorgung müssten Eltern bei einem erziehungsbedingten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben im Vergleich zu Kinderlosen Einkommenseinbußen hinnehmen und hätten deswegen künftig geringere Renten zu erwarten (vgl. BVerfGE 87, 1 <37 f.>).
Die Benachteiligung von Familien, in denen ein Elternteil sich der Erziehung widme, werde weder durch staatliche Leistungen noch auf andere Weise ausgeglichen. Die festgestellten Nachteile hätten ihre Wurzel nicht allein im Rentenrecht und bräuchten folglich auch nicht nur dort ausgeglichen zu werden (vgl. BVerfGE 87, 1 <39>). Soweit sich aber die Benachteiligung gerade in der Alterssicherung der kindererziehenden Familienmitglieder niederschlage, sei sie vornehmlich durch rentenrechtliche Regelungen auszugleichen. Auch dabei bestehe ein nicht unerheblicher Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, der insbesondere nicht
verpflichtet sei, Kindererziehung und Beitragszahlung hinsichtlich der Begründung von Rentenanwartschaften gleichzustellen. Die Anerkennung von Kindererziehungszeiten als rentenbegründender und rentensteigernder Tatbestand sei ein grundsätzlich geeignetes und systemgerechtes Instrument zur Verbesserung der Alterssicherung kindererziehender Versicherter (vgl. BVerfGE 87, 1 <40>).“

2. Die Auslassungen
Folgende Auslassungen sind dabei zu konstatieren:
• „Differenziert der Gesetzgeber zum Nachteil der Familie, so ist der besondere Schutz zu beachten, den der Staat nach Art. 6 Abs. 1 GG der Familie schuldet (vgl. BVerfGE 18, 257 <269>; 67, 186 <195 f.>). Das bestehende Alterssicherungssystem führt zu einer Benachteiligung von Personen, die sich innerhalb der Familie der Kindererziehung widmen, gegenüber kinderlosen Personen, die
durchgängig einer Erwerbstätigkeit nachgehen können (Rn. 125 – 126)
• „Im Unterschied zu den Gründen, die sonst für die Erwerbslosigkeit und damit den Ausfall von Beitragszahlungen ursächlich sein mögen, hat die Kindererziehung allerdings bestandssichernde Bedeutung für das System der Altersversorgung. Denn die als Generationenvertrag ausgestaltete Rentenversicherung läßt sich ohne die nachrückende Generation nicht aufrecht erhalten. Diese bringt die Mittel für die Alterssicherung der jetzt erwerbstätigen Generation auf. Ohne nachrückende Generation hätte sie zwar Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt, könnte aber keine Leistungen aus der Rentenversicherung erwarten. Dabei kann angesichts der Breitenwirkung der Rentenversicherung vernachlässigt werden, daß nicht jedes Kind später zum Beitragszahler wird. (Rn. 127)
• Die Benachteiligung von Familien, in denen ein Elternteil sich der Kindererziehung widmet, wird weder durch staatliche Leistungen noch auf andere Weise ausgeglichen. Die Alterssicherung, die vor Einführung der Rentenversicherung von den eigenen Kindern gewährleistet wurde, ist gerade infolge des Zwangsversicherungssystems erheblich vermindert. Die Pflicht zur Zahlung von Versicherungsbeiträgen beeinträchtigt die finanzielle Leistungsfähigkeit der Kinder. Geldmittel, die sie ohne den Beitragszwang zum Unterhalt ihrer nicht mehr erwerbstätigen Eltern aufbringen könnten, werden ihnen entzogen und auf die Solidargemeinschaft übergeleitet, die sie zur Rentenzahlung an die Versicherten insgesamt verwendet. (Rn.129, 130)
• Die Hinterbliebenenrente, die zu der Zeit, als Frauen typischerweise nicht im Erwerbsleben standen, einen gewissen Ausgleich für den durch Kindererziehung verursachten Verzicht auf eine eigene Altersversorgung verschaffte, hat diese Funktion weitgehend eingebüßt, seitdem die Berufstätigkeit beider Ehegatten zugenommen hat und die Zahl der Kinder zurückgegangen ist. Auch die verschiedenen Leistungen im Rahmen des Familienlastenausgleichs (Erziehungsgeld, Kindergeld, Kinderfreibetrag, Ausbildungsförderung) machen die Einbußen, die Eltern gegenüber Kinderlosen in der Alterssicherung erleiden, nicht wett. Dasselbe gilt für die Regelungen über das "Babyjahr" im HEZG und im KLG. Sie haben die Benachteiligung, die Familien trifft, ebenfalls nur in verhältnismäßig geringem Umfang ausgeglichen. (Rn. 131)
• Im Kern bleibt es auf diese Weise trotz der staatlichen Bemühungen um einen Familienlastenausgleich dabei, daß die Kindererziehung als Privatsache, die Alterssicherung dagegen als gesellschaftliche Aufgabe gilt. Die Benachteiligung der Familie, wie sie die Beschwerdeführer auf der Grundlage einer transferrechtlichen Betrachtung dargelegt haben, ist auch in der mündlichen Verhandlung nicht grundsätzlich in Abrede gestellt worden.
• Für die auf der Gesetzeslage beruhenden Benachteiligung der Familie fehlt es angesichts der Förderungspflicht aus Art. 6 Abs. 1 GG, die den von Art. 3 Abs. 1 GG gelassenen Gestaltungsrahmen einengt, an einem zureichenden Grund. Namentlich ist die derzeitige Ausgestaltung der Rentenversicherung, die auf dem Versicherungsprinzip sowie der Lohnersatzfunktion der Rente beruht und ihre Leistungen in einem Umlageverfahren finanziert, kein zureichender Grund, die Erzieher von Kindern gegenüber Kinderlosen im Ergebnis erheblich zu benachteiligen. (Rn. 132-133)
• „Der Schutz der Rentenanwartschaften durch Art. 14 Abs. 1 GG steht einer maßvollen Umverteilung innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung zu Lasten kinderloser und kinderarmer Personen nicht entgegen. … Unabhängig davon, auf welche Weise die Mittel für den Ausgleich aufgebracht werden, ist jedenfalls sicherzustellen, daß sich mit jedem Reformschritt die Benachteiligung der Familie tatsächlich verringert. Dem muß der an den Verfassungsauftrag gebundene Gesetzgeber erkennbar Rechnung tragen.“ (Rn. 138)

III. Analyse des Vergleichs
Die Gegenüberstellung dieser Passagen zeigt, dass das BVerfG im Beschluss vom 7. April 2022 zum einen die Vergleichs- und zugleich genuine, reziproke Ausgleichsachse zwischen Familien und Nichtfamilien, zum anderen die Tatsache der „Transferausbeutung“ (Sozialisierung des Altenunterhalts bei privatisierten Kinderlasten) ausklammert sowie – drittens – sich nicht mit der „transferrechtlichen Betrachtung“
bzw. der „bestehenden Rechtslage“ befassen will, die zur Beurteilung der Nachteile oder Vorteile der Eltern stets die positiven wie negativen Transfers der unterschiedlichen Transfersysteme saldierend zusammen bilanziert.

1. Insbesondere: Ablehnung jeglicher transferrechtlichen Betrachtung
Die Ablehnung jeglicher „transferrechtlichen Betrachtung“ , welche notwendig saldiert und somit Grundvoraussetzung der Ermittlung von Vor- und Nachteilen ist, ergibt sich insbesondere noch aus folgenden Passagen des neuen Beschlusses (Rn 288f.):
„Insbesondere muss eine Entlastung nicht im Wege einer "Vorteilsabschöpfung" auf Kosten der Vergleichsgruppe realisiert werden. Der Gesetzgeber schuldet nur ein gleichheitsgerechtes Ergebnis. Wie er dieses erzielt, liegt in seinem grundsätzlichen Gestaltungsermessen. Dass die relative Entlastung der benachteiligten Gruppe gerade so auszugestalten ist, dass sie der bevorteilten Gruppe nicht nur vorenthalten bleibt, sondern darüber hinaus gerade auch auf deren Kosten zu gewähren ist, dass also kompensatorischer Vor- und Nachteil einander spiegelbildlich entsprechen müssen, lässt sich aus Art. 3 Abs. 1 GG nicht ableiten. Der Gesetzgeber kann sich auch zu einer Steuerfinanzierung entschließen. Die Verfassung enthält keine Bestimmung, wonach es geboten oder verboten wäre, die gesetzliche Sozialversicherung teilweise aus Steuermitteln zu finanzieren (vgl.
BVerfGE 113, 167 <219>). Das in diesem Zusammenhang angeführte Argument, steuerfinanzierte Begünstigungen würden durch die Familien selbst mitfinanziert und seien deshalb für einen Ausgleich ungeeignet (vgl. Kingreen, in: Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes 57 <2008>, S. 71 <90>; Lenze, NZS 24 2007, S. 407 <409>; dies., SGb 2017, S. 130 <133>), greift nicht durch. Das Steueraufkommen fließt in den allgemeinen Haushalt und ist grundsätzlich nicht zweckgebunden. Eine Zuordnung einzelner haushaltsrechtlicher Verwendungsentscheidungen zur Steuererhebung bei bestimmten Steuerzahlerinnen und -zahlern ist ausgeschlossen (vgl. BVerfGK 14, 287 <294>; 18, 477 <478>).“
a) Non-Affektationsprinzip bei Eingriffslagen abwegig
Hieran erweist sich nahezu alles als unhaltbar: Erstens sind in § 213 Abs. 3,4 SGB VI sehr wohl die Verwendungszwecke der Mehrtwert- und Ökosteuernrevenuen für die Bundesbeiträge für Kindererziehung normiert. Das Gericht selbst hat im Beschluss vom 23.8.1999 betr. die Erhöhung der Mehrwertsteuer festgestellt, dass diese überproportiomal zulasten der Eltern geht und hat transferrechtliche Kompensationen bei der Einkommensteuer/dem Kindergeld verlangt.

Zweitens sagen weder die Kläger noch die direkt angesprochenen, mit diesen Fragen langjährig befassten und durch eine Vielzahl einschlägiger Publikationen als besonders sachkundig ausgewiesenen Wissenschaftler Kingreen und Lenze, dass Eltern ihre Steuern zweckbestimmt zahlen, vielmehr wird hier die schlichte, fachwissenschaftlich untermauerte (spätestens seit der Transfer-EnqueteKommission) prinzipiell unstreitige Tatsache benannt, dass Eltern zu rund 70 Prozent am allgemeinen Steueraufkommen beteiligt sind, weshalb drittens die vom Gericht zitierten Judikaturen nicht einschlägig sind.
Die Tatsache (auch) systemübergreifender „In-sich-Transfers“ („linke Tasche/rechte Tasche“) hat mit dem Non-Affektationsprinzip nicht das geringste zu tun, vielmehr geht es um Saldierungen positiver und entgegengesetzter negativer Transfers, ohne welche sich die Frage nach Vor- bzw. Nachteilen nicht rational beurteilen lässt. Worum geht es denn eigentlich? Doch um parafiskalische Vorteile von Kinderarmenlosen auf Kosten von Eltern, oder?
Jedenfalls ist genau das die Frage, auf welche die Kläger eine verfassungsrechtliche Antwort begehrten. Erhalten haben sie stattdessen wirklichkeitsfremde, kontrafaktische Verirrungen.

b) „Gleichheitsgerechtes Ergebnis“ ohne transferrechtliche Saldierung?
Was denn eigentlich ein „gleichheitsgerechtes Ergebnis“ wäre, verrät das Gericht nicht. Sicher ist nur, dass dieses Postulat unter Anwendung des Art. 6 Abs. 1 GG ausgeschlossen wäre; denn eine Abwehr/Beseitigung von Nachteilen kann nicht dadurch erfolgen, dass die Begünstigten ihre parafiskalischen Vorteile behalten und die parafiskalisch Benachteiligten nur unter anderer Etikette, nämlich der Steuerfinanzierung, selbst wieder zur Aufrechterhaltung der relativen Vorteile zur Kasse gebeten werden. Die Frage, was ein „Ausgleich“ wert ist, wenn man ihn selbst bezahlt, stellt sich dem Gericht offensichtlich genauso wenig wie die Frage, warum im Beitragskinderurteil der Ausgleich auf der Beitragsseite verlangt wurde: Nämlich genau aus diesem Grunde.
Was die acht Richter des 1. Senats hier ins Feld führen, hat mit Verteilungsgerechtigkeit nichts zu tun, sondern erweist sich als Lizenz zum Hütchenspiel für den Gesetzgeber. Ihnen scheint völlig unbekannt zu sein, dass Transferverfassungsrecht immer Übertragungen positiver und negativer, fiskalischer wie parafiskalischer, meist kom- und oft perplexer Transfers zu beurteilen hat und ein Werturteil über Vor- und Nachteile ohne Saldierung ebensowenig möglich ist wie ein Abhilfegebot. Hier hätte ein Blick in die „Pionierarbeit“ (Dieter Suhr) von Bernd Wegmann „Transferverfassungsrechtliche Probleme der Sozialversicherung“ hilfreich sein können, auf welche die Kläger vielfach hingewiesen haben. Dass hier gleichheitsrechtlich, erst recht unter Anlegung des des scharf gestellten Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG), ein eigenes Gleichheitsproblem aufgeworfen ist, will das BVerfG nicht sehen (entgegen seiner eigenen, ihm offenbar unbekannten Rechtsprechung! -dazu eingehend noch unten).

c) Welche Vergleichsmaßstäbe sollen denn gelten?
Meint das BVerfG vorstehend also etwa, dass „ein gleichheitsgerechtes Ergebnis“ sich ohne Maßstäbe und fern jeder Wirklichkeit der Lastentragung erreichen lässt? Die Kläger hatten hierzu – in Auseinandersetzung mit der nachgeschobenen Äußerung der Bundesregierung vom 10.3.2021 und der darin enthaltenen Betonung gleichheitsrechtlicher „Vorteilsgerechtigkeit“ – folgendes zu bedenken gegeben:
„Es ist logisch, dass der Maßstab der „Vorteilsgerechtigkeit“ die Feststellung ökonomischer Vorteile bzw. Nachteile zwischen den beiden Gruppen voraussetzt. Um diese zu bilanzieren und zu saldieren, bedarf es der Klärung der Fragen, was, woran und wie gemessen werden soll:
Was genau sind die Beiträge und Leistungen der sozialversicherten Familien (einschließlich der informellen, nicht-monetären) und was die der Kinderlosen bzw. Kinderarmen, welche in den streitgegenständlichen Systeme zu berücksichtigen sind? Wie lautet das Verhältnis der zu vergleichenden Gruppen zueinander? Welche positiven und negativen Transfers in welchen Systemen mit jeweils welchen Inzidenzen finden statt (u.a.: fallen formelle und materielle Abgabenlasten ggfls. auseinander)? So untersuchten beispielsweise Martin Werding und Herbert Hofmann die Frage, welche (Geld- und Zeit-) Kosten den Eltern selbst im Durchschnitt für den Lebensunterhalt und die Erziehung eines Kindes entstehen und wie sich die Finanzierung der resultierenden Gesamtkosten, einschließlich der vom betrachteten Kind in Anspruch genommenen öffentlichen Ausgaben, typischerweise auf Eltern und Kinderlose aufteilt. Nach den dazu angestellten Berechnungen finanziert eine durchschnittliche Familie direkt rund 52,6 % dieser Gesamtkosten; unter Berücksichtigung ihrer Beteiligung an den öffentlichen Ausgaben werden daraus rund 84,6 %. Rund 67,5 % der dem Kind zufließenden „öffentlichen“ Ausgaben stellen somit nur einen staatlich organisierten, aber letztlich innerfamiliären „In-sich-Transfer“ dar. 55
Denn Verfassungsjudikatur ist kein Glasperlenspiel: Ohne methodisch und empirisch solide ermittelte Tatsachengrundlagen lassen sich bilanzierende Schlüsse und verfassungsrechtliche Bewertungen nicht treffen, zumal für die Rechtfertigung von Gleich- oder Ungleichbehandlungen von Versicherten mit Kindern und kinderlosen Versicherten in den gesetzlichen Sozialversicherungssystemen wegen der mit der Versicherungs- und Beitragspflicht verbundenen Grundrechtseingriffe (Art. 2 Abs. 1 GG) eine strenge Bindung des Gesetzgebers an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt, wie die Bundesregierung eingangs zutreffend feststellt (S. 12 f.). Die Antwort auf die von der Bundesregierung gestellte Frage, ob Eltern einen wesentlich größeren Gesamtbeitrag für die Sozialversicherungssysteme erbringen als Kinderlose (S. 9), setzt diese Nettosaldierung selbstverständlich voraus.
Dass die ökonomische Bilanzierung und Saldierung synchron-horizontaler wie vertikaler, dabei oft gegenläufiger positiver und negativer Transfers, die sich auf interpersonale sowie diachron-intergenerationelle Ebenen erstrecken, in zudem unterschiedlichen fiskalischen und parafiskalischen Transferflüssen mit je eigenen Inzidenzen stattfinden und obendrein noch die marktexternen informellen Leistungen in den Familienhaushalten erfassen müssen57, dabei großen methodischen Problemen begegnen, bewiesen bereits die grundlegenden Arbeiten der hochkarätig besetzten Transfer-Enquete-Kommission“ (1977-1981)58 bei dem Versuch, im Dschungel der Transfersysteme positive und negative Transfers haushaltsbezogen und netto zu saldieren; die Kommission bezeichnete ihre Ergebnisse (die sich nur mit zeitgleichen Querschnittanalysen befassten) selbst als „unbefriedigend.““

Statt Recht und Wirklichkeit anhand ihrer jeweiligen Eigenheiten und Maßstäbe zu erfassen, spielt das BVerfG hier ein „seltsam maßstab- und evidenzloses“ (Kingreen) Glasperlenspiel. Das ist das Gegenteil der „sozialen Wirklichkeit“ Böckenfördesn.

HINWEIS:

Altersversorgung
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